Dienstag, 27. November 2012

Amartya Sen über den Zustand der Volkswirtschaftslehre und den Zugang zur Wissenschaft Ökonomie



(Interviewer) Wie sollte neues ökonomisches Denken aussehen?
(Amartya Sen) Wir brauchen einen breiteren, ganzheitlicheren Blick. Wir müssen die gesamte Bandbreite der menschlichen Bedürfnisse sehen, die für Wohlstand notwendig sind. Ich wünsche mir ein ökonomisches Denken, das der menschlichen Freiheit größere Aufmerksamkeit schenkt. Ich meine nicht nur formale Rechte, sondern echte Freiheit - dass jeder Einzelne bestimmen kann, was er für ein Leben führt und was er erreicht. Die grundlegende Frage, die sich Ökonomen stellen sollten, ist: Was können wir tun, um eine anständige Gesellschaft zu haben, in der die Menschen weit mehr Freiheit haben, ein Leben zu führen, auf das sie stolz und glücklich sind. Und wir müssen uns fragen, welche Hilfe der Staat leisten kann, damit es diese substanzielle Freiheit gibt.
Sie beziehen sich immer wieder auf alte Denker wie etwa Smith, Keynes und andere. In der modernen Ökonomie spielt die Ideengeschichte aber keine große Rolle mehr…Das ist leider so. Unsere Disziplin hat die Ideengeschichte in den letzten Jahrzehnten sehr vernachlässigt. Das war einer unserer größten Fehler.
Gibt es Hoffnung, dass dieser Trend umgekehrt werden kann?Ja, ich bin da recht optimistisch. Es findet ein Umdenken statt. Besonders freut mich, dass der Anstoß von den Studenten kommt - deren Interesse an der Ideengeschichte steigt. Letztes Jahr haben meine Frau Emma Rothschild und ich in Harvard ein Seminar zu Adam Smith's Philosophie und Wirtschaftspolitik angeboten. Das ist auf großes Interesse gestoßen, wir haben einige der besten Studenten angelockt.
Ist der starke Fokus, den moderne Ökonomen auf Mathematik legen, die Kehrseite der Vernachlässigung der Ideengeschichte?Nein. Es besteht kein Konflikt zwischen der Mathematik und anderen Methoden. Unser Fach ist seit jeher eng mit der Mathematik verbunden. Dafür müssen wir uns nicht schämen. Wir dürfen uns nur nicht ausschließlich auf mathematische VWL konzentrieren und Erkenntnisse vernachlässigen, für die andere Arten der Argumentation nötig sind. Der Konflikt herrscht zwischen einem ganzheitlichen, breiten, umfangreichen Blick im Gegensatz zu einem engen Blick - ob der nun mathematisch ist oder nicht.
Quelle: Handelsblatt