Dienstag, 13. September 2011

Der Fall von Lehman Brothers, ein düsteres Jubiläum. Das Wissens- und Expertenproblem

Nachdem sich die Terrorangriffe des 11. September heuer zum zehnten Mal jährten, steht auch schon ein weiteres düsteres Jubiläum an: Der Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers jährt sich dieser Tage zum dritten Mal. Seit dem Ausbruch der Finanzkrise, die in den USA ihren Ausgang nahm und sich bald zu einer globalen Wirtschaftskrise auswuchs, ist also schon einige Zeit ins Land gegangen. Wie kann es sein, dass Europa ebenso wie die USA weiterhin mit erhöhter Arbeitslosigkeit und einer schwachen Konjunktur zu kämpfen hat? Wie ist es möglich, dass drei Jahre nach der in höchster Not abgewendeten Kernschmelze des globalen Finanzsystems die Frage aufgeworfen werden muss, welche wirtschaftspolitischen Maßnahmen gesetzt werden können, um einen Rückfall in die wirtschaftliche Rezession (Double Dip) zu verhindern?

Das hätte niemals passieren dürfen. Eigentlich hätten wir es besser wissen müssen. Wir hätten die uns zur Verfügung stehenden Mittel nutzen müssen, um eine tiefe, ausgedehnte Krise, die viel wirtschaftliches Leid über die Bevölkerungen Europas und der USA bringt, zu verhindern. Und wenn wir schon nicht dazu in der Lage gewesen sind, eine Krise zu unterbinden, so müssten wir doch eigentlich die wirtschaftspolitischen Instrumente haben, um wieder in ruhige Fahrwässer zu gelangen. Richtig? Richtig, wenn man sich die Überzeugung vor Augen führt, die von weiten Teilen der Berufsgruppe an Ökonomen und Wirtschaftsexperten in den Jahren vor dem Ausbruch der Krise vertreten wurde. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas tat in einer Rede im Jahr 2003 kund, dass es der Volkswirtschaftslehre gelungen sei, das zentrale Problem der Prävention wirtschaftlicher Depressionen zu lösen:

“Macroeconomics was born as a distinct field in the 1940s, as a part of the intellectual response to the Great Depression. The term then referred to the body of knowledge and expertise that we hoped would prevent the recurrence of that economic disaster. My thesis in this lecture is that macroeconomics in this original sense has succeeded: Its central problem of depression-prevention has been solved, for all practical purposes, and has in fact been solved for many decades.”

Mit dieser Aussage war Lucas nicht allein auf weiter Flur; er brachte vielmehr die unter Ökonomen verbreitete Mehrheitsmeinung zum Ausdruck. Doch nicht nur die berufsmäßig mit der Ökonomie beschäftigten Wissenschaftler wähnten sich im Besitz überragender Kenntnisse, die es möglich machen würden, Krisen in Zukunft im Keim zu ersticken. Nach der Jahrtausendwende, während der Jahre, die der Subprime-Krise vorausgingen, legte auch ein Großteil der Finanzmarktteilnehmer nicht gerade eine bescheidene Verhaltensweise an den Tag, die auf ein Bewusstsein der Lehren vergangener Finanzmarktkrisen hätte schließen lassen. Und so konnte nach dem spektakulären Platzen der Dotcom-Blase bereits die nächste Preisübertreibung Einzug halten: Die Preise an den amerikanischen Häusermärkten schossen förmlich in den Himmel, woran allerdings nur sehr wenige Marktanalysten und Ökonomen etwas zu beanstanden hatten. Ein geschärftes Bewusstsein für die Gefahren von völlig überteuerten Vermögenswerten sieht anders aus; um diese Feststellung kommt man wohl nicht herum. Dabei hätte man annehmen können, dass die schmerzlichen Erfahrungen aus dem kollektiven Dotcom-Rausch den Investoren und Marktbeobachtern noch in lebhafter Erinnerung sein hätten müssen.

Dem war offensichtlich nicht so. Der Mensch ist vergesslich; er vergisst besonders schnell, wenn ihm die Gunst des Vergessens neue exorbitante Wertsteigerungsgewinne verspricht. Investoren sind begeisterungsfähig, sie sind sprunghaft und handeln irrational. Und sie sind gierig, allzu gierig. Bis zum Platzen der Subprime-Blase trieb die Überzeugung, diesmal sei alles anders, ungehindert Blüten. Ganz fest redete man sich ein, die explodierenden Häuserpreise beruhten auf einem gesunden ökonomischen Fundament. Gleichzeitig grassierte im wissenschaftlichen Bereich der von Lucas vertretene Glaube, dass das historische Studium von Finanz- und Wirtschaftskrisen die Experten dazu befähige, die Fiskal- und Geldpolitik so zu steuern, dass es zu keinen schweren wirtschaftlichen Abschwüngen mehr kommen könne. Wirtschaftspolitiker seien mittlerweile dazu in der Lage, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um schwerwiegende volkswirtschaftliche Probleme zu lösen oder gar im Keim zu ersticken. Die traumatischen Erfahrungen der Großen Depression in den 1930er-Jahren würden sich niemals wiederholen können, nicht einmal annähernd; das sei schlicht undenkbar.

Vor dem Hintergrund dieses unbändigen Vertrauens in die Selbstregulierungskräfte der Märkte auf der einen und in die Wirksamkeit des zur Verfügung stehenden wirtschaftspolitischen Instrumentariums auf der anderen Seite ist es umso bemerkenswerter, dass es weder in Europa noch in den USA gelungen ist, eine ausgedehnte Krise zu verhindern. Natürlich sollte man sich davor hüten, Europa und die USA einfach in einen Topf zu werfen. Denn auch wenn viele Probleme auf beiden Seiten des Atlantiks auf sehr ähnliche Weise auftraten – Notwendigkeit der Bekämpfung der Bankenkrise, Schwierigkeiten bei der Implementierung fiskal- und geldpolitischer Maßnahmen, Reaktion auf die sprunghaft ansteigende Verschuldung der öffentlichen Hand usw. –, so ergeben sich aus den unterschiedlichen volkswirtschaftlichen Strukturen und institutionellen Rahmenbedingungen doch erhebliche Differenzen, die im Einzelnen berücksichtigt werden müssten, wenn detailreich über wirtschaftspolitische Bereiche diskutiert werden soll. Nichtsdestotrotz kommt man kaum um die allgemeine Feststellung herum, dass die wirtschaftlichen Verwerfungen die USA ähnlich unerwartet und unvorbereitet trafen wie Europa. Da wie dort wiegten sich die Entscheidungsträger in die trügerische Illusion, diesmal sei alles anders: Krisen passieren nicht bei uns. Entwicklungsstaaten sind unangenehmerweise immer wieder von Finanz- und daran anschließenden Wirtschaftskrisen betroffen, so unter anderen einige asiatische Staaten in den späten 1990er-Jahren; ebenso Mexiko oder Argentinien. Aber wir, die hochentwickelte westliche Welt, mit all unserem überlegenen Know-how, mit all unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen... nein, uns kann eine solche Krise nicht mehr widerfahren; dafür sind wir viel zu weitsichtig, viel zu klug, unser Wissen ist dafür viel zu ausgereift.

Heute, drei Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, sollten wir es besser wissen. Die Grenzen unserer ökonomischen Prognosekompetenzen und wirtschaftspolitischen Steuerungsmöglichkeiten sollten sich uns eingebrannt haben. Doch ist die Einsicht, dass wir es in den Jahren der Entstehung der Krise mit einem dramatischen Experten- und Wissensproblem zu tun hatten, wirklich gereift? Sind die Verantwortlichen gewillt, dies anzuerkennen und ihre Geisteshaltung zu ändern? Anlässlich des traurigen Jahrestages, an dem wir des nur durch massive staatliche Interventionen verhinderten Scheiterns des westlichen Finanzkapitalismus gedenken, sollten wir innehalten und uns mit aller gebotenen Ehrlichkeit diese Fragen stellen.